NEUE BRIEFE

Das Scheitern der Asylpolitik

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„Wir können unsere Außengrenzen doch nicht gefährlicher machen als die Kriege, vor denen Menschen fliehen“ – Erik Marquardt

Die Situation an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zeichnet aktuell ein Sinnbild des Scheiterns der europäischen Asylpolitik. Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und unwürdige Zustände in den Camps gehören dort zum Alltag von vielen Tausenden von Flüchtenden.

Weltweit befinden sich aktuell 70,8 Mio. Menschen auf der Flucht, davon 115.000 in Griechenland und 3,6 Mio. in der Türkei.[1] Am südöstlichen Rand der EU, an der türkisch-griechischen Grenze, verläuft ein Teil der EU-Außengrenze. Dieser Abschnitt ist für viele Menschen aus Afghanistan, Syrien und Pakistan das Eingangstor nach Europa. Die aktuelle Lage an der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei ändert sich beinahe täglich. Dieser Artikel bildet den Stand vom 20.03.2020 ab.

Ende Februar setzte der türkische Präsident Erdoğan das EU-Türkei-Abkommen faktisch außer Kraft und öffnete Grenzübergänge zu Griechenland. In dem Abkommen von 2016 hatte er die Türkei verpflichtet, Flüchtende, die auf den griechischen Ägäisinseln ankamen, aufzunehmen, wofür die EU im Gegenzug vor allem finanzielle Unterstützung schickte.[2] Seit der Aufkündigung des Abkommens hinderte die türkische Regierung Flüchtende nicht mehr daran, die EU-Außengrenze zu Griechenland zu überqueren.[3] Damit versuchte Erdoğan die EU unter Druck zu setzen und fordert unter anderem finanzielle Unterstützung beim Syrien-Konflikt. Um die Situation weiter aufzuheizen, stellte die türkische Regierung kostenlose Busse zur Verfügung, die Flüchtende aus dem Inland zu den offenen Grenzübergängen nach Griechenland brachten.[4] So werden Schutzsuchende als menschliche “Munition” missbraucht, wie es eine Journalistin treffend formulierte.[5] In der Folge sammelten sich vermehrt Flüchtende an der Grenze zu Griechenland. Die griechische Regierung kündigte an, ihren Grenzschutz mit Unterstützung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und mithilfe von 700 Mio. Euro der EU zu verstärken und für einen Monat keine weiteren Asylanträge anzunehmen. Die deutsche Regierung unterstützte den Einsatz mit 77 Bundespolizist*innen. Als Mittel der Grenzsicherung kam es zu brutaler Gewaltanwendung inklusive Tränengas und Blendgranaten als systematische Abschreckungsmaßnahme. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen haben alle Staaten “das Recht, ihre Grenzen zu kontrollieren und irreguläre Bewegungen zu regeln, müssen jedoch gleichzeitig auf übermäßige oder unverhältnismäßige Gewalt verzichten und Systeme zur ordnungsgemäßen Bearbeitung von Asylanträgen aufrechterhalten”.[6] Was dort passiert, verstößt eindeutig gegen die Menschenrechte und das Asylrecht laut EU-Grundrechtecharta, Genfer Flüchtlingskonvention und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.[7] Diese Rechtsverletzungen finden mit Unterstützung der EU und der deutschen Regierung statt.

Flüchtende, die es zu Fuß oder übers Wasser nach Griechenland schafften, berichten von Verhaftungen und Inhaftierungen sowie illegalen Abschiebungen durch die griechische Polizei. Diese Praxis verstößt sowohl gegen das Recht auf Rechtsbeistand laut EU-Grundrechtecharta, wonach vor einer Verhaftung ein neutraler  Rechtsbeistand die Flüchtenden über ihre Rechte aufklären müsste, als auch gegen das Recht auf Asylantragstellung. Mit dem Vorgehen der letzten Wochen verstößt Griechenland massiv gegen die Grundwerte der EU.

Von den 115.000 Schutzsuchenden in Griechenland befindet sich ein Großteil in Camps auf griechischen Inseln. Das größte davon liegt bei Moria auf der Insel Lesbos und war eigentlich für 3.000 Personen ausgelegt. Aktuell wohnen dort 25.000 Menschen, davon 35 Prozent Kinder.[8] Damit ist auf Lesbos das größte Camp für Flüchtende in Europa mit katastrophalen Lebensbedingungen entstanden. Weder Schlafplätze noch Lebensmittel, medizinische Versorgung oder sanitäre Anlagen gibt es in ausreichender Menge. Die Strukturen, die es bereits gibt, wurden überwiegend von den Bewohner*innen selbst oder von Hilfsorganisationen geschaffen. Die griechische Regierung bietet beispielsweise keine Form der medizinischen Versorgung an. Welche Folgen eine Pandemie in einem Camp ohne ausreichende Hygiene- und Quarantänemöglichkeiten, in dem sich teilweise 1.300 Menschen einen Wasserhahn teilen und bis zu neun Personen auf drei Quadratmetern schlafen müssen hätte, mag man sich kaum ausmalen.[9] Die Organisation Ärzte ohne Grenzen warnt vor einem riesigen Infektionsrisiko. Durch ihre Abgrenzungsstrategie verstärkt die EU jedoch die Möglichkeit einer schnellen und unkontrollierten Ausbreitung.[10] Politiker*innen riefen daher die Kampagne #leavenoonebehind zur Evakuierung überfüllter Camps ins Leben.[11] Die ohnehin schon sehr angespannte Lage auf Lesbos eskalierte in den letzten Wochen durch die Anreise von ca. 40 gewaltbereiten Rechtsextremist*innen aus ganz Europa, darunter vorbestrafte Gewalttäter*innen, die Flüchtende, Journalist*innen und Mitarbeiter*innen von NGOs angriffen.[12] Zuletzt starb ein Mädchen bei einem Brand, der aufgrund der Enge des Lagers nicht gelöscht werden konnte.[13]

Ich fordere hiermit die sofortige Evakuierung der überfüllten Camps auf den griechischen Inseln und die gerechte Verteilung auf die EU-Staaten zur Umsetzung der notwendigen Quarantäne- und Schutzmaßnahmen. Außerdem das Ende der Auslagerung der europäischen Migrationspolitik an die Außengrenzen. Wir brauchen eine solidarische Lösung, die nicht auf dem Rücken einzelner Mitgliedsstaaten ausgetragen wird. Und drittens ein menschenrechtskonformes Vorgehen an den EU-Außengrenzen. Gewaltanwendungen sorgen nicht dafür, dass weniger Menschen in Zukunft ihre Heimat verlassen müssen oder weniger Menschen Asyl beantragen werden.

Was wir alle jetzt tun können, ist vor allem darüber zu sprechen, für die Situation von Flüchtenden zu sensibilisieren und das Thema auch anderen ins Bewusstsein zu rufen. Wenn ihr gerne mehr dazu lesen möchtet, gibt es unter diesem Text noch ein paar Empfehlungen. Unterschreibt Petitionen, schreibt Politiker*innen einfach mal einen Brief (Adressen gibt es im Internet) und fragt sie, was sie dafür oder dagegen tun. Falls ihr Zeit, Fachwissen oder Geld zur Verfügung habt, wendet euch gerne an Sea-Watch, die Seebrücke oder Ärzte ohne Grenzen. Vor allem medizinische Expertise kann dort gerade viel ausrichten.

Nach der pädagogischen Konzeption des BdP wollen wir uns für die Prinzipien der Demokratie einsetzen. Dazu gehört auch das Eintreten gegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in Griechenland.

 Weitere Informationen

 

 

Lea Weber, Stamm Graue Biber, LV Hessen

Lea ist Mitbegründerin des Vereins Rigardu e.V., der sich seit 2015 für Menschen auf der Flucht einsetzt. Der Verein hat das Projekt Border Violence Monitoring Network mitaufgebaut, welches Menschenrechtsverletzungen und illegale Push-Backs an den EU-Außengrenzen dokumentiert und führt außerdem politische Bildungsangebote durch.

 

[1] https://www.migazin.de/2020/03/06/fluechtlinge-in-der-tuerkei-und-in-griechenland/

[2] Zur Kritik am EU-Türkei-Abkommen: https://www.proasyl.de/news/warum-der-deal-mit-der-tuerkei-eine-schande-fuer-europa-ist/

[3] In der Nacht vom 18. auf den 19.03. kam es nach drei Wochen der geöffneten Grenzübergänge wieder zu Grenzschließungen, um die Ausbreitung des Corona-Virus einzudämmen. https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-tuerkei-schliesst-die-grenzen-zur-eu-wieder.1939.de.html?drn:news_id=1112113

[4] https://twitter.com/isabelschayani/status/1233871266538500096

[5] https://twitter.com/WillingerK/status/1234394895927980032

[6] https://www.unhcr.org/dach/de/40329-statement-zur-lage-an-der-tuerkei-eu-grenze.html

[7] Nach EU-Grundrechtecharta, Genfer Flüchtlingskonvention und den Allgemeinen Menschenrechten müssen Menschen das Recht haben, in einem Land, das nicht ihr Heimatland ist, Asyl zu beantragen, wenn ihnen in ihrer Heimat Verfolgung droht oder ihre Menschenrechte eingeschränkt werden. Ob einem Asylantrag zugestimmt oder er abgelehnt wird, ist vorerst unklar, das Recht auf die individuelle Fallprüfung steht aber jedem Menschen zu. Dieses Recht wird seit mehreren Jahren an den EU-Außengrenzen missachtet. Bei der Asylvergabe darf es keine Obergrenze und keine Einschränkung auf Zeit geben.

[8] https://www.youtube.com/watch?v=o4cyFN52LQ8

[9] https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/coronavirus-trifft-auf-fluechtlingskrise-die-doppelte-hoelle-von-lesbos/25649140.html

[10] https://twitter.com/MSF_Sea/status/1238451904620920832

[11] http://chng.it/XsMfrpt6Qp

[12] https://www.deutschlandfunk.de/journalisten-auf-lesbos-man-weiss-nicht-mehr-wie-man.2907.de.html?dram:article_id=472633

https://www.deutschlandfunk.de/tuerkisch-griechische-grenze-marquardt-gruene-die-bilder.694.de.html?dram:article_id=471520

[13] https://www.tagesschau.de/ausland/fluechtlingslager-moria-brand-101.html

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