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NEUE BRIEFE

Von Leipzig nach Nusse

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Die Idee, eine Pfadfindergruppe in Leipzig zu gründen, kam erstmals im Dezember 1989 auf, als wir abends im Schülerfreizeitzentrum Leipzig-Südost zusammensaßen und über die Zukunft philosophierten. Wir, das waren die älteren Mitglieder einer Arbeitsgemeinschaft „Touristik“ (Orientierungslauf u.ä.): die Schüler*innen Bohne, Matzl (später Schlaubi) und Tweety sowie der AG-Leiter Reinhard. Vor wenigen Wochen war die Berliner Mauer gefallen und die FDJ (Freie Deutsche Jugend) hatte ihre Bedeutung als zentrale Jugendorganisation der DDR bereits verloren. Bis zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 sollten aber noch einige aufregende Monate vergehen.

Im Frühjahr 1990 nahmen wir Kontakt zu verschiedenen Pfadfinderbünden in der BRD auf und erfuhren erstmals Näheres über deren Arbeit. Im Gespräch mit den jüngeren Mitgliedern und den Eltern stellten wir fest, dass der BdP am ehesten zu uns passte. Auf einem AG-Lager im Mai beschlossen wir schon einmal unsere Umbenennung in „Pfadfindergruppe Leipzig-Südost“. Der BdP-Landesverband Schleswig-Holstein/Hamburg lud uns dann auf sein Pfingstlager vom 1. bis 4. Juni 1990 in Nusse bei Mölln ein. Das war unsere erste Möglichkeit, Pfadfinden selbst zu erleben.
Am Freitagmorgen war ich um 6 Uhr mit Reinhard und Schlaubi am Freizeitzentrum verabredet. Wir beluden die Fahrräder mit unseren Schlafsäcken, das waren eher Steppdecken mit Rundumreißverschluss, und den ebenfalls sehr schweren Luftmatratzen und radelten zum Leipziger Hauptbahnhof. Um 7 Uhr fuhr der D-Zug Richtung Rostock los.

Gegen 11 Uhr erreichten wir den Bahnhof Ludwigslust, wechselten den Zug und fuhren bis zum Endbahnhof Zarrentin an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Weiter ging es mit dem Rad. In der Stadt Mölln legten wir eine Pause ein. Wir besuchten den Eulenspiegelbrunnen und das örtliche Kaufhaus ebenfalls. Dort habe ich den ersten Teil meiner 100 DM Begrüßungsgeld für einen neuen Rucksack ausgegeben.

Im Lager angekommen, suchten wir Reinhards Kontaktperson. Das Mädel, das uns in Empfang nahm, stellte uns dem Stamm Norwing vor. Stammesführer Menzi nahm uns unter seine Fittiche und quartierte uns in seiner Kohte mit ein. Fortan prasselte eine Sintflut von Neuem auf mich ein. Große und kleine schwarze Zelte wurden überall aufgebaut. Immer mehr Trüppchen junger Leute und Kinder zu Fuß oder per Rad trudeln ein. Rad fallen lassen und Umarmungen, Rad abstellen und sofort anderen beim Aufbauen helfen. Dass junge Leute so miteinander umgehen, kannte ich vorher nicht.

Mein erstes Pfadfinderlied habe ich hier gelernt (den Pfingstlagersong) sowie den ersten Essensspruch, die erste Morgenrunde miterlebt, die erste Lagereröffnung, den ersten Singeabend am Lagerfeuer mit Tschai, den ersten Kontakt mit Dixis, die erste Lagerabschlussrunde.

Doch eines blieb mir auf jeden Fall im Gedächtnis: die Semmelaktion. Da wir die Tage unentgeltlich hier verbrachten, entschloss sich Reinhard, Samstagmorgen im Örtchen Nusse den Bäcker leerzukaufen. Wir machten uns frühzeitig und möglichst unbemerkt mit den Rädern auf den Weg. Reinhard spendierte einen Teil seines Begrüßungsgeldes und kaufte für sämtliche Norwinger frische Bäckersemmeln.

Am Pfingstmontagmorgen schlug das Wetter um. Die Lagerabschlussrunde fand im Nieselregen statt. Abbau und Aufbruchstimmung. Menzi und Holgi brachten uns mit einem Kleinlaster nach Zarrentin an den Bahnhof.

Und… ich hatte mich verliebt: ins Pfadfinden! Vollgepackt mit neuen Eindrücken, neuen anhaftenden Gerüchen, Müdigkeit und Erschöpfung stiegen wir in den Zug zurück nach Hause und brachten eine große Idee mit…

Ein paar Tage später besuchte ich meinen Onkel Andreas und ließ mir seine nicht mehr bespielte Gitarre schenken. Sie sei aber eine Mistkrücke, meinte er noch. Für meine ersten Spielübungen und die ersten Pfadfinderlieder im Stamm leistete sie jedoch gute Dienste. Die offizielle Gründung des Stammes LEO fand nach nur wenigen Wochen am 25. Juni 1990 mit 15 Mitgliedern und den Eltern statt. Im Oktober wurden wir Mitglied im Landesverband Elbe-Oder des BdP, der damals alle neuen Bundesländer umfasste.

Die folgenden Jahre waren nicht immer leicht und viele Gruppen, die Anfang der 90er Jahre in den östlichen Bundesländern entstanden, gibt es leider nicht mehr. Umso größer ist die Freude darüber, dass unser Stamm heute – 30 Jahre später – immer noch existiert und mittlerweile sogar auf rund 100 Mitglieder angewachsen ist.

Jane Mohn (Tweety) mit Unterstützung von Marc Friede (Pfennig)
Stamm LEO, Leipzig
LV Sachsen

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