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NEUE BRIEFE

Die Gesellschaft ein Stückchen besser hinterlassen?

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Stamm Barrakuda, Vaterstetten
LV Bayern

Klar können Pfadis mehr als Zelten und Feuer machen. Wir können Verantwortung übernehmen, für uns selbst und andere. Wir haben eine breite Wissens- und Wertebasis, mit der unsere Leute als engagierte Menschen in die Welt rausgehen. Pfadfinderinnen und Pfadfinder setzen sich für eine bessere Gesellschaft ein, heißt es. Das klingt eigentlich ganz gut. Ich habe das diesen Sommer mit ein paar Freundinnen und Freunden mal ausprobiert.

Die Idee war simpel. Wir reden mit Menschen. Über ihre Werte und Ideale, über ihre Ideen zu Gesellschaft und Politik. Ohne den Leuten irgendwas aufzudrücken, wollten wir sie fragen, was ihnen wichtig ist. Es war Bundestagswahl und wir wollten etwas für unsere Demokratie tun. Wir wollten in den Bezirk mit der niedrigsten Wahlbeteiligung Deutschlands fahren und so viele Menschen wie möglich dazu ermuntern, Politik als Chance anzusehen, sich einzubringen.

Anfang des Jahres, der Schock der Trump-Wahl noch in den Knochen, waren wir eine kleine Truppe von zehn Leuten, die einen kleinen Verein zur Demokratieförderung gründeten. „Projekt Denkende Gesellschaft“ nannten wir uns. Jetzt sind wir 69 Leute, ein Drittel davon Pfadis. Wir sind in den Wahlkreis 71 gefahren – Anhalt, Wahlbeteiligung 59,4%, Schlusslicht der Republik – und haben über zehn Tage mit 1780 Menschen gesprochen.

Wir trafen auf tiefe Frustration, Verdrossenheit über Politik und Gesellschaft. Uns begegnete Angst: vor Veränderung, vor Ausländern, davor zurückgelassen und vergessen zu werden. Tief sitzt bis heute eine nicht aufgearbeitete Demütigung durch die Wiedervereinigung – vielen kam diese eher als Anschluss vor, wo sich der Osten unterordnen musste. Ein Thema, welches uns als junge Menschen nicht vertraut war, waren die meisten von uns bei der Wiedervereinigung noch nicht auf der Welt. Als eine aus unserem Team einer Frau sagte, dass die Wiedervereinigung auf Augenhöhe hätte stattfinden sollen, dass der Westen auch dem Osten hätte zuhören sollen, brach ihre Gesprächspartnerin in Tränen aus.

Wie bereitet man sich auf so etwas vor? Wie kann man sich auf so viele intensive Gespräche vorbereiten, auf so viel Frust und Angst?

Überraschung: Es half tatsächlich, Pfadfinderin bzw. Pfadfinder zu sein. Nicht nur bei der Organisation: sei es bei unserem Kommunikationsworkshop zur Vorbereitung, bei Teamsitzungen, bei unserer Podiumsdiskussion bis zu unserer Einsatzgebietsplanung – wer schon mal Kurse teamte, eine Großfahrt organisierte oder einen Stammesrat moderierte, weiß, wie man an diese Dinge rangeht.

Wichtiger war aber, dass ich als Pfadfinder wusste, wie wichtig es ist, eine Gruppe zu haben, auf die man sich verlassen kann. Wir organisierten uns instinktiv in kleinen Gruppen, die auf sich aufpassten, mit der man seine Erlebnisse teilen konnte. Wir setzten uns jeden Tag zusammen und sprachen über das Erlebte, teilten Frust und Ängste, aber auch positive Erlebnisse. Wir lachten zusammen über absurde Aussagen, Rassismus und Anfeindungen, und wunderten uns darüber, dass unsere verrückte Aktion tatsächlich stattfand. Ohne eine Gemeinschaft, auf die man zurückfallen kann, die einen neu antreibt, funktioniert Engagement nicht. Jeder Wölfling lernt das – helfen, wo man kann, Rücksicht nehmen.

Die Menschen in Anhalt vertrauen der Politik nicht – schlimmer für mich aber war das Gefühl der Leute, der Gesellschaft nicht vertrauen zu können, dass kein Zusammenhalt mehr da sei. Dazu kam die Wahrnehmung der Menschen, dass sich sowieso nichts ändern würde, egal was man mache. Das ist das Gegenteil dessen, was wir als Pfadfinderinnen und Pfadfinder verkörpern – Zusammenhalt und Engagement leben wir jeden Tag, in Gruppenstunden, über Stammesräte bis zu unseren Großlagern. Es schockierte mich, wie sehr dies den Menschen fehlte.

Anhalt war bei der Bundestagswahl 2017 (trotz kleiner Steigerung) bei der Wahlbeteiligung wieder Schlusslicht der Republik. Ich bin trotzdem froh, den Versuch gewagt zu haben. Ich habe selten so viel über unsere Gesellschaft lernen können und verstehe jetzt, dass viele Probleme in unserem Land sehr viel komplexer sind, als man annimmt. Ich weiß mehr um den Wert von gesellschaftlichem Zusammenhalt und von der Gefahr, die von Angst, Frust und Apathie ausgeht. Und ich weiß, dass Pfadfinderinnen und Pfadfinder da draußen dringend gebraucht werden.

Nicht alle, aber einige Menschen konnten wir im Gespräch zum Nachdenken bewegen, einen kleinen Anstoß zum Reflektieren bieten. Vor allem konnten wir zeigen, dass die Menschen uns nicht egal sind. Die Gesellschaft ein kleines Stückchen besser zu machen, ist harte Arbeit und klappt nicht sofort. Aber Veränderung kann klein anfangen.

Anh-Quân Nguyen (Wung), Stamm Barrakuda (LV Bayern), war Landesbeauftragter der R/R-Stufe Bayerns und ist Mitglied des Bundesarbeitskreises Politische Bildung. Er initiierte Anfang des Jahres „Projekt Denkende Gesellschaft“. Mehr Infos findet ihr hier: gesellschaftsdenken.org

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