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NEUE BRIEFE

Grenzenlose Orte

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Das IPP München hat seine Studie zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im BdP vorgelegt.

*** Contentwarnung: Das Thema grenzverletzen- des Verhalten und sexualisierte Gewalt kann für manche Menschen sehr belastend sein, rede mit Freund*innen oder Familie darüber oder lies diesen Beitrag nicht alleine, wenn du Sorge hast, dass dir etwas zu viel sein könnte. ***

Das Echolot ist ein nautisches Instrument zur Vermessung von Wassertiefen. Um für das Auge unsichtbare Untiefen und Abgründe unter der Wasseroberfläche aufzuspüren, sendet es Signale aus, die vom Grund des Meeres zurückgeworfen werden. Auf diese Weise ermöglicht das Gerät dem Schiff eine sichere Fahrt durch unbekannte Gewässer. Das Projekt „Echolot“ hat für den BdP eine vergleichbare Aufgabe: Den Blick in die Tiefe der eigenen Vergangenheit zu richten, Verdecktes und Verdrängtes sichtbar zu machen und mit Hilfe seiner Offenlegung bessere Wege des Umgangs mit sexualisierter Gewalt zu finden.

Umfang sexualisierter Gewalt im Hellfeld

Werden nur Beschuldigte aus dem BdP und ihre Taten innerhalb des Untersuchungszeitraumes berücksichtigt, haben die Forscher*innen eine Gesamtzahl von 36 Beschuldigten und 123 Betroffenen von unterschiedlichen Formen sexualisierter Gewalt festgestellt. Mit Blick auf das Geschlecht wurden rund zwei Drittel männliche und ein Drittel weibliche Betroffene gezählt, was grob der Geschlechterverteilung der BdP Mitglieder im Untersuchungszeitraum entspricht. Bis auf eine Ausnahme waren alle Beschuldigten männlichen Geschlechts. Werden auch jene Fälle berücksichtigt, in denen Beschuldigte sexualisierte Gewalt außerhalb des Untersuchungszeitraumes oder nicht im BdP ausgeübt haben, erhöht sich ihre Zahl auf mindestens 60 Beschuldigte und mindestens 149 Betroffene. Während die Zahl der Beschuldigten als einigermaßen gesichert betrachtet werden könne, sei bei den Betroffenen laut IPP von einem größeren Dunkelfeld auszugehen.

Täter und Tatkontexte

Die Täter waren keine „Personen von außen“, die sich den BdP gezielt als Tatort gewählt haben. Pfadfinderei war in der Regel ein wichtiger Teil ihres Lebens. Die Forscher*innen beschreiben dies wie folgt:

„Sie waren gerne Pfadfinder. Sie investierten viel in die Gruppen, weil es ihnen Spaß machte und weil sie sowohl sozial als auch emotional von ihrem Engagement profitierten. Ihr Engagement diente der Funktionalität des Stammes. Und sie nutzten den Stamm und ihre exponierte Position zur sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Ihr Engagement für die Pfadfinder ist keine Täterstrategie, aber es beinhaltet Täterstrategien.“

Die überwiegende Anzahl der erhobenen Fälle hätte zwischen Gruppen- oder Stammesleitungen und den ihnen anvertrauten Schutzbefohlenen stattgefunden. Meist habe dabei auch der Altersunterschied eine Rolle gespielt. Dabei würden oft Personen beschuldigt, die sich mit Hilfe ihres Charismas oder Organisationstalents in eine Position gebracht hatten, in der die Gruppe von ihnen abhängig war. Teilweise wäre von inszenierten, also absichtlich vorgespielten, Liebesbeziehungen gesprochen worden, deren schädlicher Charakter erst im Verlaufe der Zeit ersichtlich worden wäre. Gerade bei Personen, zwischen denen ein geringer Altersunterschied bestand, sei es schwierig zwischen einvernehmlicher Handlung und sexualisierter Gewalt zu differenzieren.

Der Großteil der geschilderten sexuellen Übergriffe hätte auf Lagern und Fahrten stattgefunden. Dabei hätten Beschuldigten alle Möglichkeiten gehabt, um die Handlungen vorzubereiten. So wäre beispielsweise berichtet worden, dass Alkohol verabreicht wurde oder die Zimmer und Betten auf eine bestimmte Art verteilt wurden, die den Beschuldigten Zugriff auf die Betroffenen ermöglichte. Auf Fahrten und Lagern wären zu diesem Zweck unbeobachtete Situationen geschaffen worden (gemeinsam Holz holen, Spaziergänge). Darüber hinaus wäre aber auch von privaten Treffen außerhalb der Pfadfinder berichtet worden, bei denen es zu sexuellen Übergriffen gekommen sei.

„Grenzenlose Orte“ und ihre Risiken

Die Autor*innen haben ihrer Studie zum BdP den Titel „Grenzenlose Orte“ geben. Das ist durchaus ambivalent gemeint. Pfadfinderei im BdP ermöglicht viele Freiräume, sich ohne ständige Aufsicht durch ältere Erwachsene zu entfalten, Dinge auszuprobieren und Verantwortung zu übernehmen. Der Wert dieser Möglichkeiten für die Entwicklung junger Menschen wird von den Forscher*innen explizit anerkannt. Gleichzeitig können viele dieser von uns positiv erlebten Seiten des Pfadfindens unter bestimmten Bedingungen auch Risiken für sexualisierte Gewalt darstellen, genau weil viele der Aktivitäten nur wenig von außen kontrolliert werden würden.

Der in vielen Stämmen anzutreffende Mangel an Leitungspersonen hat dazu geführt, dass sich viele der Beschuldigten für ihren Stamm oder die Gruppe unentbehrlich gemacht hätten. Weil es keine jüngeren Gruppen- oder Stammesleitungen gab, hätten sie häufig diese Rollen übernommen und in ihnen über einen langen Zeitraum ungehindert Macht ausüben können. Ihre teilweise systematisch aufgebaute, unangefochtene Machtstellung wäre dafür missbraucht worden, um ihre individuellen, teils narzisstischen Bedürfnisse zu befriedigen und sexualisierte Gewalt auszuüben. Verschärfend hinzugekommen wäre, dass die weitreichende Unabhängigkeit der Stämme Möglichkeiten zur äußeren Kontrolle durch Landesverbände und Bundeverband behindert hätte. In der Studie wird dies wie folgt zusammengefasst:

„Die Altersstruktur in der Balance zu halten, ist eine schwierige Aufgabe, weil zwischen Überforderung und Bevormundung jongliert werden muss. Die einerseits sympathisch geringe Formalisierung beim BdP, die von vielen Interviewpartner*innen auch als positive Abgrenzung zu anderen Pfadfinderbünden hervorgehoben wird, kann von machtbewussten oder autoritären Personen auch als eigene Bühne genutzt werden.“

Auch das in der Regel positiv wahrgenommen starke Zugehörigkeitsgefühl zur Pfadfindergruppe konnte zum Risikofaktor werden, weil es in bestimmten Fällen Verantwortungsträger*innen dazu verleitet hätte, die Gruppe um jeden Preis zu schützen und Hinweise auf sexualisierte Gewalt abzuwehren. Teilweise hätten sich auch Kinder und Jugendliche nicht getraut, von ihren Gewalterfahrungen zu berichten, weil sie Angst gehabt hätten, sich damit gegen die Gruppe zu stellen und auf diesem Wege das für sie wichtige soziale Umfeld zu verlieren.

Umgang des BdP mit sexualisierter Gewalt

Wie sind Stammesführungen, Landes- und Bundesvorstände mit Beschuldigten und Betroffenen und sexualisierter Gewalt umgegangen? Wie wurde bei Vorwürfen verfahren, welche Interventionen erfolgten und welche Interessen waren dabei handlungsleitend? Die Antworten sind nicht nur geeignet, um die institutionelle Verantwortung des BdP für erfahrenes Leid zu benennen. Sie tragen hoffentlich auch zur Entlastung von Betroffenen bei, indem diese klar benannt wird.

Einzelne Fälle sexualisierter Gewalt, in denen die verantwortlichen Leitungspersonen schnell und engagiert im Sinne der Betroffenen handelt haben, lassen sich meist auf das Ende des Untersuchungszeitraums, also in die 2000er Jahre datieren. Die deutliche Mehrzahl der in der Studie beschriebenen Fälle zeichnen allerdings ein anderes Bild:

Es wurden den Forscher*innen zahlreiche Situationen geschildert, in denen sich Jugendliche und junge Erwachsene in Leitungspositionen von der übernommen bzw. übertragenen Verantwortung deutlich überfordert fühlten. Das hätte nicht nur, aber ganz besonders für den Umgang mit sexualisierter Gewalt gegolten. In Verbindung mit dem häufig im BdP anzutreffenden Anspruch, die Dinge selbst und ohne externe Unterstützung im Stamm oder Verband zu regeln, hätte dies teilweise verheerende Folgen für die Betroffenen gehabt.

So hätte sich der Umgang mit (Verdachts-)Fällen von sexualisierter Gewalt meist auf die jeweilige Stammes- oder auf die Verbandsebene beschränkt. Dabei seien eigenmächtig Ermittlungen durchgeführt worden, bei denen meist eine persönliche Nähe, teils auch Abhängigkeitsverhältnisse der Beteiligten untereinander bestünden hätten. Es wären Verfahren einer internen Gerichtsbarkeit zur Anwendung gekommen, die als offizielle Ausschlussverfahren, aber auch in Form von improvisierten Stammessitzungen stattgefunden hätten. Diese Orientierung nach innen hätte vorwiegend die Interessen der Organisation bedient aber auch zu einer deutlichen Selbstüberschätzung geführt, aus der sich teilweise fatale Problemlösungspraktiken entwickelt hätten.

Interventionen hätten häufig in Versuchen bestanden, Tatverdächtige zu konfrontieren und zu kontrollieren, Kinder und Jugendliche auf meist diffuse Weise zu warnen oder Hinweiszeichen auf Gefährdungen und Betroffenheit schlichtweg zu ignorieren. Aufgrund dieser fahrlässigen Umgangsweisen wäre die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen in einigen Stämmen teilweise über Jahrzehnte hinweg in Kauf genommen worden. Oftmals sei es nicht gelungen, Täter dauerhaft aus dem Umfeld der Stämme zu entfernen, u.a. weil sie weiterhin in Förder- oder Hausvereinen aktiv gewesen seien.

Dabei wäre in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht erkennbar, dass man sich im BdP für Unterstützungsbedarfe Betroffener interessiert hätte. Im Hinblick auf Unterstützungsbedarfe und mögliche weitere Gefährdungen hätte man sich auch des Prinzips „Aus den Augen – aus dem Sinn“ bedient. Wer den BdP verließ, hätte nicht mehr dazu gehört und damit auch jegliche Unterstützung durch seine Mitglieder verwirkt.

Folgen des Umgangs mit sexualisierter Gewalt

Neben vielfältigen anderen emotionalen Belastungen fiel den Forscher*innen vor allem die häufige Erwähnung von Schuldgefühlen auf Seiten der Betroffenen auf. Sie vermuten, dass starke Machbarkeitsvorstellungen und Verantwortungsgefühle, von denen das Pfadfinder*innenleben geprägt wird, Schuldgefühle befördern, wenn etwas nicht gelingt bzw. man den gefühlten Ansprüchen der eigenen Gruppe nicht gerecht wird. Wenn sich Schuldgefühle mit eigener Betroffenheit von sexualisierter Gewalt verbinden, könnten schwerwiegende emotionale und lange anhaltende Belastungen entstehen.

Betroffen seien aber auch Personen, die von sexualisierter Gewalt Kenntnis bekamen – und zwar auf allen Ebenen von der Sippe über den Stamm und den Landesverband bis zur Bundesführung. Die Forscher*innen weisen in diesem Zusammenhang auf ein riesiges Spektrum aus Schuldzuweisungen, Schuldgefühlen und Schuldabwehr, die die Diskussion über sexualisierte Gewalt im BdP präge.

Darüber hinaus hätten sich in den Stämmen aus der Aufdeckung sexualisierter Gewalt Konflikte entwickelt, die unterschiedliche Gründe haben konnten – beispielsweise die organisatorische Überforderung die Gruppe, Loyalitäten zum Täter oder Schuldzuweisungen.

Empfehlungen an den BdP

Die Autor*innen der Studie haben eine zehn Seiten umfassende Liste von Empfehlungen zu Pädagogik des BdP, Prävention, Aufarbeitung und Intervention bei Fällen sexualisierter Gewalt im zusammengestellt. Sie reichen von einem Ausbau der Zusammenarbeit mit externen Interventionsstellen gegen sexualisierte Gewalt über die kritische Auseinandersetzung mit Aufdeckungshindernissen bis hin zu Hinweisen auf weitere Aufarbeitungsbedarfe. Damit beginnt für den BdP nun die eigentliche Arbeit. In den kommenden Monaten muss nun intensiv diskutiert werden, wie der Verband mit diesen Empfehlungen umgehen will. Es zeichnet sich bereits jetzt schon ab, dass dies keine Aufgabe einzelner Personen oder Arbeitskreise sein kann. Betroffen sind alle Ebenen des BdP, vom Stammesrat bis zum Bundesvorstand sowie ganz verschiedene Arbeitsbereiche der Landesverbände und des Bundesverbandes.

Die hier vorgestellten Ergebnisse stellen natürlich nur einen kleinen Ausschnitt der vom IPP zusammengetragenen Befunde dar. Allen Leser*innen sei daher dringend empfohlen, selbst einen Blick in den Abschlussbericht der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu werfen. Die dargestellten Fälle sind teilweise schwer zu verdauen, können fassungslos und traurig machen. Sie ermöglichen aber ein umfassendes und tieferes Verständnis von sexualisierter Gewalt in unserem Bund, wie es bisher nicht möglich war. Gleichzeitig macht sie blinde Flecken im Umgang mit Betroffenen und Tätern sichtbar. Dabei gelingt es den Autor*innen gut verständliche Bezüge zu Selbstverständnis, unausgesprochenen Normen und Überzeugungen, Arbeitsweisen und Strukturen in unserem Bund herzustellen. Dadurch leistet der Bericht zugleich einen wichtigen Beitrag zur Selbstaufklärung des BdP, der weit über das Phänomen sexualisierter Gewalt hinaus geht.

(Und für alle, die vor dem Umfang des Berichtes zurückschrecken, gibt es am Ende eine Zusammenfassung.)

Die komplette Studie steht auf der Webseite des IPP als pdf zum Download bereit und wird auch als Buch veröffentlicht werden.

Eine Stellungnahme des Bundesvorstands mit Blick auf die Studie und ihre Ergebnisse findet ihr auf pfadfinden.de.

 

Philipp Stemmer-Zorn (Günzel)
AK Aufarbeitung

Stamm Kolibri, Lübeck

LV Schleswig-Holstein/Hamburg

Titelfoto: Simon Vollmeyer

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