Projekt Echolot: „Mutig und leider überhaupt nicht selbstverständlich“
,Aufarbeitung – ein Thema, das unseren Verband gerade sehr beschäftigt. Wir haben uns dazu mit Johannes-Wilhelm Rörig unterhalten, dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM).
Guten Tag Herr Rörig, wir freuen uns sehr, dass wir die Gelegenheit zu einem Interview bekommen haben! Was haben Sie gedacht, als Sie von unserem Projekt zur Aufarbeitung gehört haben?
Es ist wirklich beachtlich, wie sich der BdP bereits seit über 20 Jahren mit dem Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche auseinandersetzt. Das zeigen auch Ihre vielen verschiedenen Präventions- und Sensibilisierungsmaßnahmen von Schutzkonzepten über Handlungsleitfäden bis zu Schulungen, die der BdP in diesen Jahren entwickelt hat. Mit dem Projekt „Echolot“ hat der BdP jetzt ein wichtiges Projekt zur Aufarbeitung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen initiiert – das ist mutig und leider überhaupt nicht selbstverständlich, dass dieser Schritt freiwillig in einem Verband oder einer Einrichtung angestoßen wird. Diese hohe Eigenmotivation des Vereins war auch in unseren gemeinsamen Gesprächen mit dem BdP sehr spürbar. Das hat für mich Vorbildcharakter auch für andere Einrichtungen und Organisationen. Besonders beeindruckend ist für mich auch, dass die überwiegend ehrenamtlich engagierten Mitglieder bereit sind, das Projekt „Echolot“ durch die Erhöhung der eigenen Mitgliedsbeiträge und ohne weitere Fördermittel zu finanzieren – und dass entschieden wurde, die wissenschaftliche Begleitung durch externe Expert*innen durchführen zu lassen. Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München verfügt über eine sehr breite Expertise im Bereich der institutionellen Aufarbeitung.
Aus Ihrer Sicht: Hat sich die Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt verändert?
Definitiv! Aber traurigerweise brauchten wir wohl erst den sogenannten „Missbrauchsskandal“ von 2010, damit das Thema überhaupt ins öffentliche Bewusstsein gelangen konnte. Seitdem sehen wir ein langsames Umdenken. Das Bedürfnis nach Schutz- und Präventionskonzepten nimmt zu. Es wird immer mehr kritisch hinterfragt: Ab wann ist das Verhalten oder der Umgang gegenüber Kindern oder Jugendlichen bereits übergriffig? Wie erkenne ich Strategien von Tätern und Täterinnen? Und wie verhalte ich mich bei Vermutung und Verdacht, auch im eigenen Team oder Kolleg*innenkreis? Viele Einrichtungen und Organisationen suchen Antworten darauf und entwickeln Schutzkonzepte. Es zeichnet sich eine abnehmende Toleranz für grenzverletzendes Verhalten und eine Entwicklung zu mehr Hinschauen und Handeln ab. Auch dass wir uns heute kritischer mit uns und unserer Vergangenheit auseinandersetzen, trägt zu der positiven Entwicklung innerhalb der Gesellschaft bei. Allerdings fehlt noch immer die bedingungslose und skandallosgelöste Bereitschaft, sich mit der Thematik zu beschäftigen. Denn dafür bedarf es einer ernsthaften kontinuierlichen und ressortübergreifenden Auseinandersetzung mit dem Thema und noch viel mehr Engagement auf Seiten der Politik auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene.
Teilweise wird Aufarbeitung auch kritisch gesehen und etwa der Vorwurf erhoben, dass eine „Hetzjagd“ betrieben und Lebenswerke zerstört werden sollen. Wie sehen Sie solche Vorwürfe? Was macht Aufarbeitung aus Ihrer Sicht aus?
Aufarbeitung ist neben Prävention und Intervention eine zentrale Säule um Kinder und Jugendliche besser zu schützen und vergangenes Leid anzuerkennen. Aufarbeitung heißt nun einmal, vergangenes Unrecht aufzudecken und sich aufrichtig mit Missbrauch begünstigenden Strukturen auseinanderzusetzen. Die Bedienung des Vorwurfs der „Hetzjagd“ oder des „Generalverdachts“ ist dabei leider eine sehr verbreitete Form der Abwehr und Verdrängung. Sicher muss bei Aufarbeitung auch mitgedacht werden, zu welcher Zeit und vor welchem kulturellen und strukturellem Hintergrund Missbrauch stattgefunden hat – es entschuldigt diesen aber nicht. Zentral ist doch, insbesondere auch für Betroffene, dass wir durch die Aufarbeitung der Vergangenheit für die Zukunft lernen können. Wir müssen verstehen, was Missbrauch begünstigt hat und warum so viel vertuscht werden konnte und wir müssen die Verantwortlichkeiten dafür explizit benennen, auch wenn die Taten bereits juristisch verjährt sind. Dieser Aspekt ist neben der Anerkennung des Leids von Betroffenen der zentrale Aspekt von Aufarbeitung.
Welchen Rat können Sie uns geben für unser Projekt?
Für eine ernsthafte Auseinandersetzung und Verantwortungsübernahme ist es erforderlich, dass Betroffene in den Aufarbeitungsprozess respektvoll, transparent und gleichberechtigt einbezogen werden. Nur dadurch lässt sich sicherstellen, dass vergangene Fehler nicht wiederholt werden und damit auch der BdP davon wirklich profitieren und daran wachsen kann. Ein solches Projekt kann den Verband nach innen und außen stärken, wenn es gelingt alle mitzunehmen. Die Einbeziehung von Betroffenen ist ein wesentlicher, aber nicht immer einfacher Aspekt von Aufarbeitung. Ein erster Schritt hierbei, wie bereits von Ihnen vorgesehen, ist ein authentischer Aufruf an Betroffene mitzuwirken. Ein zweiter Schritt muss sich mit der Frage beschäftigen, wie Vernetzung und Teilhabe Betroffener gestärkt werden kann und wie sie in ihrer Mitwirkung bestmöglich unterstützt werden können, zum Beispiel durch externe Expert*innen aus Beratungs-, Supervisions- oder Hilfestrukturen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es sehr sinnvoll ist, hier bereits etablierte Unterstützungsstrukturen zu beteiligen.
Wollen Sie uns noch etwas mitgeben?
Sie haben ein eindrucksvolles und sehr strukturiertes Aufarbeitungsprojekt geschaffen. Halten Sie an Ihrer Zielsetzung, Ihrer Vision und Ihrem Engagement fest. Bleiben Sie dran.
Arbeitskreis Aufarbeitung
erschienen in den Neuen Briefen 03/2021
Titelfoto: Paavo Blofield; Portrait: Christine Frenzl
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