Pfadfinden in der Ukraine ist derzeit sehr schwierig. Foto: Simon Vollmeyer
NEUE BRIEFE

Nie wieder Krieg in Europa – oder? Ein Bericht aus Kiew

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Ende Februar war eine BdP-Gruppe in Kiew, um die während des ScoutingTrain entstandenen Kontakte zu pflegen. Wie sich die Gruppe dort in der sehr schwierigen Lage fühlte und wie die Zusammenarbeit weitergehen soll, lest ihr in Ausgabe 1/2015 der Neuen Briefen. Hier lest ihr den dort versprochenen Bericht von Enno Strudthoff über eine ukrainische Zeitzeugin, die im Zweiten Weltkrieg für Nazi-Deutschland Zwangsarbeit verrichten musste.

Im Osten der Ukraine herrscht Krieg. Die Geopolitik hat die Region in eine Kriegslandschaft verwandelt, aus der Millionen von Bewohnerinnen und Bewohnern geflohen sind und die viele tausend Häuser zerstört und viele Menschen ums Leben gebracht hat. Nicht nur in der Ukraine kommen Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit auf, in der sich zwei Blöcke in einem Kalten Krieg gegenüberstanden. Der Gegenstand unseres Ausfluges ging noch weiter zurück in der Zeit.

Ich studiere momentan an der Ludwig-Maximilian-Universität zu München und wir führen dort gerade ein Projekt durch, welches bisher noch unbekannte Stellen der Zwangsarbeit aus der Nazi-Zeit aufdeckt. Wir schauen also, in welchen Firmen, an welchen Plätzen und in welchen Wäldern in und um München Zwangsarbeiter während der Nazi-Zeit eingesetzt wurden. Zu diesem Zweck sind Enno (Stamm Normannen Berlin), Niklas und Hendrik (Stamm Horse aus Harsefeld) zu einer Zeitzeugin in Kiew gefahren, die in München Zwangsarbeit verrichten musste.

Millionen flüchten vor dem Bürgerkrieg

In Kiew angekommen, hat uns zunächst eine Mitarbeiterin des Arbeiter Samariter Bundes (ASB) in Empfang genommen und uns ihre Zweigstelle in Kiew gezeigt. Eine Parallele zur Zeit des Zweiten Weltkrieges hat sie in Bezug auf die Anzahl der Flüchtlinge gezogen. Alleine in ihrem kleinen Zentrum wurden an diesem Tag etwa 2000 Personen registriert. Es sind Millionen in der ganzen Ukraine, die aus den Kriegsgebieten fliehen.

Mit diesen Eindrücken fuhren wir dann zu einer Zeitzeugin Ljuba Belosickaja. Einer Dame gegenüberzustehen, die jahrelang in Deutschland zur Arbeit gezwungen wurde, war sehr bewegend. Ljuba musste in einem Ventil- und Klappenwerk höchst gesundheitsschädliches Phosphor verarbeiten. Ich war dann doch sehr schockiert zu hören, dass sie persönlich erst in den 1990er-Jahren dafür 600 DM als Entschädigung bekommen hat. Das sind heute real etwa 260 Euro, wenn man die Teuerungsraten mit einbezieht.

Unmenschliche Zustände

Zudem haben wir bei einem weiteren Experteninterview erfahren, dass Kinder, die in Deutschland als Kinder von Zwangsarbeitern leben mussten, keine Entschädigungen durch den deutschen Staat bekamen, da sie noch zu jung waren. Real ist es aber so, dass gerade die jüngsten Kinder die größten Probleme aus dem Krieg mit sich nahmen. Das ständige Gefühl der Unsicherheit und dem Entzug von Aufmerksamkeit durch die überforderten Eltern. In vielen Fällen kamen Misshandlungen der im Nazi-Jargon „Untermenschen“ genannten Ost-Arbeiter, die sich ähnlich wie dem gelben David-Stern ein Schriftzug „OST“ an die linke Brust kleben mussten, wenn sie das Haus verließen.

„Mich haben sie nie geschlagen, da ich noch etwas jünger war. Eine Freundin von mir haben sie jeden Tag geschlagen. Auch von anderen Frauen habe ich ähnliche Geschichten gehört. Mir erging es eigentlich gut. Ich hatte fast immer etwas zu essen und durfte in meiner Zeit als Zwangsarbeiterin in dem Haushalt am Kurfürstenplatz in München sogar manchmal das Haus verlassen. Andere Frauen hatten da nicht so ein Glück.“ Ljuba Belosickaja

Ein Appell zur Netzwerkbildung

All das sind Geschichten, die die ukrainische Gesellschaft bis heute belasten und die bis in die heutige Zeit ihre Spuren hinterlassen. „Nie wieder Krieg“ war eine Losung, die in Deutschland in der Nachkriegszeit und bis heute von dem Großteil der deutschen Bevölkerung unterschrieben werden konnte. Aber was tut jeder einzelne von uns heute, um den Krieg in Europa zu beenden?

Es gibt wenig Möglichkeiten für die Einzelperson; aber in dem wir ein Netzwerk von jungen Leuten schaffen, die sich einzeln für die Gemeinschaft der Pfadfinderinnen und Pfadfinder einsetzen, glaube ich, kann ein Anfang gemacht werden. Setzt euch ein für die Projekte die hier in diesem Heft beschrieben werden oder spendet. Denn jeder Euro wird dort eingesetzt, wo Menschen keine Perspektive mehr sehen und spendet Trost und bildet ein Netzwerk, welches über die Kriegszeiten hinaus bestehen bleibt und so eine Neuanfang der ukrainischen Gesellschaft maßgeblich mit unterstützen kann.

Die Stationen von Ljuba Belosickaja (*1925)
Erste Station: Zwangsarbeit in einer Phosphorfabrik in München.
Zweite Station: Zwangsarbeit auf einem jüdischen Friedhof neben der Fabrik. Als dieser von den Nazis zerstört wurde.
Dritte Station: Zwangsarbeit bei einer Familie am Kurfürstenplatz in München.

Foto: Simon Vollmeyer

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