Pfadfinden trifft Landtag
,Oder: Wie Advocacy-Work auch in Deutschland funktioniert
Advocacy – das ist zu Englisch eine Aktivität eines*einer Einzelnen oder einer Gruppe, die darauf abzielt, Entscheidungen in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen und Institutionen zu beeinflussen.[1]
Als ich kürzlich in einem Pfadfinder*innenseminar das neu entwickelte WAGGGS Advocacy Toolkit in den Händen hielt, war meine erste Reaktion: So etwas gibt es bei uns nicht. Zwar rückt die politische Bildung langsam in den Vordergrund – vor ca. zwei Jahren wurden der Bundesarbeitskreis für Politische Bildung und erst vor wenigen Wochen ein Landesarbeitskreis im LV Bayern gegründet. Dennoch: sich über unsere eigenen Strukturen und Inhalte hinausgehend aktiv für etwas einzusetzen oder gar zu versuchen, aktiv politische Einflussnahme zu üben, – also eben gerade Advocacy-Work – ist vielen deutschen Pfadfinder*innen fremd.
International sieht das freilich ganz anders aus. Gerade afrikanische und asiatische Pfadfinder*innenverbände haben auch in der Vergangenheit außerordentlich effektive Kampagnen durchgeführt.
Dass aber wir deutschen Pfadfinder*innen das durchaus auch draufhaben – und dass das eigentlich gar nicht so schwer ist, davon durfte ich mich keine zwei Wochen nach dem besagten Seminar selbst überzeugen. An einem Donnerstag Mitte Mai bezogen wir, also 20 Pfadfinder*innen des BdP sowie der DPSG, PSG, des VCP und der Weltenbummler[2] unsere Stellung innerhalb des Bayerischen Landtags, direkt vor den Türen des Plenarsaals. Im Gepäck hatten wir nicht nur eine Jurte, die wir im Landtag samt Lichterkettenlagerfeuerromantik aufbauten, sondern auch im Vorfeld erarbeitete jugendpolitische Forderungen an die nebenan tagenden Abgeordneten. Diese Forderungen, die unter pfadfinden-in-bayern.de auffindbar sind, erstrecken sich über Themen wie die Freistellung zum Zwecke der Jugendarbeit, das Bereitstellen von bezuschussten Interrail-Tickets, die Überreglementierung von Lagerbauten (dazu gleich mehr), den Nahverkehr sowie unser zentrales Leitbild „Jugend führt Jugend“.
Und dieses Angebot lohnte sich. Zu Besuch waren die jugendpolitischen Sprecher*innen aller Fraktionen, zahlreiche Fraktionsvorsitzende und weitere Prominenz des bayerischen Politikbetriebes, allen voran Ilse Aigner, Präsidentin des Bayerischen Landtags. Insgesamt sprachen wir mit über 70 Abgeordneten!
Ein Thema, welches uns dabei besonders am Herzen lag: Die bayerische Bauverordnung schreibt für Zelte mit einer Grundfläche von über 75 m2 (zwei Jurten reichen mitunter aus) das Einholen einer Ausführungsgenehmigung seitens der zuständigen Bauaufsichtsbehörde vor.[3] Diese Regelung stellt vor allem Großlager regelmäßig vor erhebliche Probleme. In unseren Gesprächen wurde schnell klar, dass dem Landtag, insbesondere dem zuständigen Resort, die Problematik nicht bekannt war. Erfreulicherweise wurde uns kurzerhand versichert, man werde sich dieses Themas persönlich annehmen und eine Ausnahme für Pfadfinder*innen-/Brauchtumsbauten ausarbeiten.
Warum erzähle ich euch das nun alles? Dreierlei möchte ich euch mitteilen:
- Überverbandliche Arbeit kann super funktionieren. Im Planungsteam befanden sich Mitglieder aller Verbände, die Zusammenarbeit klappte durch die Bank reibungslos. Uns Pfadfinder*innen verbindet unendlich viel mehr, als uns voneinander trennt!
- Politische Einflussnahme – klingt kompliziert, ist es aber nicht. Mit verhältnismäßig wenig Aufwand haben wir es geschafft, die Pfadfinderei zum Gesprächsthema zu machen und Teil der politischen Landkarte der Abgeordneten zu werden. Wir haben gezeigt: Wir sind eine Jugendorganisation, von und für Jugendliche. Politik können wir trotzdem.[4]
- Politik kann Spaß machen und tut sie auch ganz regelmäßig. Denn: Auch wenn es anstrengend war und vor allem der Umgang mit verschiedenen Abgeordneten der AfD mitunter eine gute Portion Fingerspitzengefühl erforderte, waren wir zum Ende des langen Nachmittags mehr als nur zufrieden.
Das schöne an dieser Aktion ist – sie ist wiederholbar und leicht nachzumachen: im Kleinen (Besucht vielleicht mal das Rathaus während einer Gemeinderatssitzung; zeigt, dass es euch gibt und dass und weshalb die Gelder der Stadt bei euch gut angelegt sind!) sowie im Großen (Keinem Landesverband wird so eine Aktion jemals schaden – tut euch zusammen und probiert es aus, der Gewinn am öffentlichen Bild der Pfadfinderei ist unbezahlbar). Wir haben eine Stimme – wir müssen uns nur zeigen.
Solltet ihr euch für unser Projekt interessieren oder Unterstützung bei der Umsetzung eines eigenen Advocacy-Projektes benötigen, meldet euch gerne bei unserer BB für Politische Bildung, Julia unter julia.obradovic@pfadfinden.de.
Leon Matella und Julia Obradovic, Stamm Robin Hood, Ottobrunn, LV Bayern
[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Advocacy; 20.06.2019.
[2] Sie alle teilen sich die Vertretungsrechte im bayerischen Jugendring (BJR), also einem der wichtigsten (bayerischen) Gremien, über die Pfadfinder*innenverbände politischen Einfluss ausüben können.
[3] Zugegebenermaßen: So eindeutig ist Art. 72 BayBO aus juristischer Perspektive gar nicht. Die beschriebene Situation beschreibt aber die aktuelle Handhabung der Regelung.
[4] Oder gar deshalb?
Was denkst du?