1997 BuLa Cottbus_070
30 Jahre Deutsche Einheit

Klar, heute würden wir das alles ganz anders machen

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Nicht leicht, darüber zu philosophieren, wie das vor 30 Jahren in Deutschland bzw. im BdP war. Wie unter einem Deckel waren damals die DDR und große Teile Osteuropas für mich versteckt.
Aus Spielen wie Monopoly kennt ihr es vielleicht: Plötzlich hast Du mehr Straßen und mehr Land und sollst/kannst/darfst damit was anfangen, aber was? Mehr Material kaufen, mehr Helfer organisieren, die Netzwerke vergrößern oder doch nur langsam über Los gehen und 200 Euro kassieren?

Was wenn das kein Spiel ist, sondern Wahrheit und du gerade einen Jugendverband auf Bundesebene leitest? Was tust du, wenn dein Land und damit deine Zuständigkeit wächst? Da hast du eine riesige Region in deinem Land, die dir völlig unbekannt ist, in der es keine Pfadfinderarbeit in der Form gibt, wie wir sie kennen, aber unendlich viele junge Menschen, die gerade ein einschneidendes und vielleicht das historischste Ereignis ihres Lebens erleben. Ob die wohl Mitglieder werden wollen?

Wie es angehen, wenn du Menschen für Jugendverbandsarbeit ansprechen willst, die gezwungen wurden, einen Abschnitt ihres Lebens in einer Staatsjugend zu verbringen, angeleitet von Erwachsenen, die auch eine gehörige Portion Politik in die Jugendarbeit brachten? Oder war das alles anders, als du dachtest? Das eigene Wissen speiste sich nur von Vorurteilen und aus Sekundärinformationen. Was wussten wir schon von der Freien Deutschen Jugend (FDJ), ihren Strukturen und wann und wo sie genau aufgelöst wurde?

Und was denken die Mitglieder deines Verbandes darüber? Interessieren sie sich für den „Gebietszuwachs“ wie über ein neues Fahrtengebiet, freuen sich überhaupt auf neue Begegnungen und Herausforderungen?

Der 9. November 1989, den ich mit Pfadfinderfreund*innen fassungslos freudig vor dem Fernseher verbrachte, war der Anfang von etwas Neuem.

Heftige Diskussionen entbrannten innerhalb der Gremien, ob es die Aufgabe des BdP sei, in Ostdeutschland ein BdP-Erlebnis anzubieten und unsere Arbeit so, wie sie war, den ostdeutschen Kindern und Jugendlichen „überzustülpen“, Mitglieder anzuwerben oder ob man besser warten solle, bis „sie sich melden würden“.

Die neue Region und die neuen Aufgaben in Deutschland wurden unter West-Landesverbänden und Bund aufgeteilt, damit Interessierte aus allen „neuen Bundesländern“ gleichermaßen gut beraten werden konnten. In den ersten 18 Monaten gab es unzählige Einladungen an fast alle, die sich aus dem Osten meldeten, in den „alten Bundesländern“ an Kursen und Treffen teilzunehmen, um den BdP kennenzulernen und zu verstehen, was unsere Arbeit von dem unterscheidet, was zuvor an staatlicher Jugendarbeit in Ostdeutschland geleistet worden war.

Der Bund koordinierte zunächst die Kontakte zwischen den westlichen und östlichen Bundesländern, konnte sich allerdings bald zurückziehen, während die Landesverbände und einzelne Stämme im Aufbau des Ostens ihre Aufgaben und Refugien gefunden hatten. Das alles binnen zweieinhalb Jahren.

Eine bundesweite Förderung durch die Regierung unterstützte die Zusammenarbeit und den Aufbau 1990 und 1991, um Initiativen zu ermöglichen, Kontaktaufnahmen zu erleichtern und vieles mehr. Im Folgeregierungsprogramm förderte der Bund gezielt den Aufbau von BdP-Strukturen in einem gewaltigen Programm und hauptamtlicher Begleitung mit dem Ziel, baldmöglichst in allen „Neuen Ländern“ eigene Landesverbände zu bilden.

Das wichtigste war natürlich: Neugründung von Gruppen, von Stämmen. Dazu gehörte es, Pfadfinder*innenkultur und –geschichte, Führung und Organisation zu vermitteln, vorzuleben und sicherzustellen, dass all jene, die im Osten aktiv werden wollten, besonders gefördert werden. Aber es dauert und braucht viel Geduld, bis ein Stamm eine funktionierende Größe hat, bis ein Wölfling dann einmal Stammesführer*in wird und somit als Vorbild für seine*ihre Mitglieder in den eigenen Pfadi-Stil hineinwächst und hier erfolgreich sein kann. Partnerstämme und Partnerlandesverbände halfen beim Aufbau von lokalen und landesweiten Strukturen. Erste Studierende wechselten „in den Osten“ und engagierten sich vielerorts beim Aufbau von Stämmen oder Führen von neuen Gruppen.

Um eine Brücke für möglichst viele Mitglieder des alten Westens in den Osten zu schlagen, gab es Anfang der 90er Jahre gleich zwei Entscheidungen für Bundesveranstaltungen, die den BdP nach Ostdeutschland bringen sollten: Die Bundesfahrt 1992 nach Jerichow und das Bundeslager 1997 nach Cottbus. Die Bundesfahrt war etwas Besonderes, denn die teilnehmenden Gruppen gingen in verschiedenen Gebieten der EX-DDR auf Fahrt. Die Hoffnung bestand darin, möglichst viele Teilnehmer*innen aus Ost und West zusammenzubringen. Es gelang nur leidlich. Nur einige, wenige Teilnehmer*innen kamen aus Ostdeutschland. Zumeist waren es West-Sippen, die auf Fahrt waren. Diese jedoch berichteten von vielen spannenden Begegnungen mit Ex-DDR-Bürgern.

Das Bundeslager in Cottbus dagegen lag auf einem der Höhepunkte von Pfadfinden in Ostdeutschland in den 90er Jahren: Es gab inzwischen fünf Landesverbände in den Neuen Ländern, ganz unterschiedlicher Größe. Die Vorbereitung wurde durch viele neue Mitglieder aus den ostdeutschen Stämmen und ihren Partnerstämmen getragen. Stämme und Landesverbände hatten die Gelegenheit, sich auf Augenhöhe zu begegnen, ihren Erfolg zu feiern und darauf aufzubauen.

Es war beeindruckend, wie viele Menschen aus Ost und West gemeinsam den BdP auf- und ausbauen wollten – ihnen müssen wir sehr dankbar sein.

Elke Ebert (Zwersch)
Stamm Vaganten,
Schwalbach/Ts.
LV Hessen

 

Foto: Simon Vollmeyer, Bundeslager 1997 in Cottbus

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